Religion im Zeitalter der beschleunigten Gesellschaft
Harmut Rosa untersucht den Zusammenhang zwischen Demokratie und religiöser Erfahrung.Per restare aggiornato entra nel nostro canale Whatsapp
Welchen Zweck erfüllt Religion in unserer heutigen Gesellschaft? Ist sie bloß ein Anachronismus? Oder eine Art Aberglaube, der im Privaten praktiziert, aber nicht öffentlich diskutiert wird? Doch was würde mit der Demokratie geschehen, wenn Religion gänzlich verschwände? Diesen schwierigen Fragen geht der deutsche Soziologe Hartmut Rosa in seinem Essay „Warum Demokratie Religion braucht“ (il Mulino, 2025, 136 Seiten, auch als E-Book erhältlich) nach. Ausgangspunkt von Rosas Überlegungen ist, wie Mauro Magatti in der gelungenen Einleitung des Buches betont, die Erkenntnis, dass unsere Zeit durch eine Beschleunigung in Technologie (mit immer schnelleren Innovationen), Gesellschaft (getrieben von der anhaltenden Krise von Rollen und Institutionen) und Existenz (bedingt durch ein oft unhaltbares Lebenstempo) geprägt ist. Diese Beschleunigung schafft immer mehr Möglichkeiten für den Einzelnen, auf Informationen, Werkzeuge und Ideen zuzugreifen, erzeugt aber gleichzeitig auch ein Gefühl der Entfremdung und Frustration. Die Welt erscheint verschlossen, feindselig und kalt; Dinge und Menschen werden zu Objekten, die konsumiert, kontrolliert und optimiert werden.
Was also nötig ist, ist eine andere Erfahrung, die Rosa Resonanz nennt. Für die deutsche Soziologin entsteht Resonanz, wenn sich ein Mensch mit einer anderen Person, aber auch mit einem Kunstwerk, einer Landschaft oder einer spirituellen oder religiösen Erfahrung verbunden fühlt und darauf mit tiefem Engagement reagiert. So entsteht eine Erfahrung der Gegenseitigkeit, in der der Einzelne eine lebendige, dynamische Beziehung auf der Grundlage des Dialogs aufbaut. Resonanz ist daher das Gegenteil von Individualismus und Entfremdung. Entfremdung ist eine stille, leblose Beziehung, während Resonanz eine Beziehung etabliert, in der die Welt reagiert, sich präsent zeigt und uns herausfordert. Für die Autorin des Buches ist Resonanz daher das, was dem Leben Sinn verleiht, und eine Erfahrungsform, die alle großen Kulturen, einschließlich der Religionen, zu pflegen und zu bewahren suchten.
Das Problem heute ist, dass authentische Resonanzerfahrungen nicht auf Knopfdruck herbeigeführt werden können: Sie erfordern Offenheit, die Bereitschaft zum Unerwarteten und aktives Zuhören. Sie brauchen Zeit und Stille. Resonanz steht daher im Widerspruch zum Zeitgeist unserer von Eile, Kontrollsucht und Planung geprägten Welt. Doch das tiefste Bedürfnis der Menschen ist es, sich zu verbinden, sich einbezogen und von ihren Erfahrungen herausgefordert zu fühlen, nicht Empfindungen und Erlebnisse anzuhäufen.
Aus dieser Perspektive ist Religion nicht bloß ein Glaubenssystem, sondern eine Beziehungspraxis. Sie ist einer der Orte, an denen die Erwartung von Resonanz gepflegt wird, denn Gebete, Mythen, Rituale und heilige Geschichten dienen nicht nur der Inhaltsvermittlung, sondern ermöglichen es dem Einzelnen auch, sich auf einen Zustand der Offenheit für das Geheimnisvolle und für andere vorzubereiten. Kurz gesagt: In einer Welt, die danach strebt, alles leicht zugänglich und erreichbar zu machen, fördert die Religion das Streben nach Erkenntnis und die Erwartung der Auseinandersetzung – die Grundlage für den Aufbau wahrer Beziehungen und damit für die Verbindung mit allem um uns herum.
Für Rosa geht es bei Resonanz jedoch nicht nur um das Individuum; es ist keine rein private Angelegenheit. Für tiefe und erfüllende Beziehungen braucht es eine Gesellschaft, die einen fruchtbaren Boden für solche Erfahrungen bietet. Eine Schule, die Wettbewerb lehrt, trägt nicht zum Aufbau einer solchen Gesellschaft bei, ebenso wenig wie entfremdende Arbeit, die keinen Raum zum Zuhören lässt. Selbst überbaute, chaotische und laute Städte fördern keine Resonanz. Wir brauchen eine neue Gesellschaft, und Religionen können, so Rosa, dazu beitragen, dies zu verändern. Sie können wahrhaftig neue Modelle des Zusammenlebens, neue Wirtschaftsformen und neue Institutionen inspirieren, letztere basierend auf Demokratie. Denn Demokratie ist ein Instrument, das es den Menschen ermöglichen muss, sich gehört zu fühlen und zuzuhören; andernfalls ist sie nur ein Abbild der Demokratie. Wie Rosa schreibt: „Religion besitzt die Kraft (einen Fundus an Ideen und ein Arsenal an Liedern, Gesten, Räumen, Traditionen und Ritualen), zu zeigen, was es bedeutet, berufen zu sein, sich zu verändern, in einem Zustand der Resonanz zu leben. Ohne dieses Gefühl kann Demokratie nicht funktionieren. Verliert die Gesellschaft diese Bedeutung, vergisst sie diese mögliche Beziehungsform, dann ist sie wahrhaftig am Ende. Und so kann die Antwort auf die Frage, ob die heutige Gesellschaft noch Religion braucht, nur ein klares Ja lauten!“
